Freitag, 23. Februar 2018

Wir wissen nicht, wohin wir fliehen sollen

Beitrag zur Gedenkfeier zum Tag der Bombardierung von Pforzheim 23.2.2018 (Hauptfriedhof)

I.
Wir wissen nicht, wohin wir fliehen sollen!
Als die Bomben fallen, gibt es keinen sicheren Ort mehr.
Kein Keller ist sicher. Kein Haus. Keine Straße. Kein Fluss.
Was bleibt, ist die nackte Angst
Um sich selbst. Um die Lieben. Um die Nachbarn. Um die Stadt.

Wir wissen nicht, wohin wir fliehen sollen!
Und danach bleibt den Überlebenden nur noch das Grauen.
Keine Worte können das fassen.
Keine Tränen können es wegspülen.
Nichts bleibt.

Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab. (Jesaja 63,19)
Reiß den Himmel auf. Komm herab.
Der Himmel wurde aufgerissen - aber herab fallen die Bomben.
Der Tod. Das Grauen, vor dem man nicht fliehen kann.

II.
Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen von damals.
Hören wir ihnen zu. Trauern wir mit ihnen.
Lassen wir sie erzählen.

Lassen wir sie erzählen
von der Hitze in den Kellern und von der Decke, die herabfiel.
Davon, wie die Luft immer enger wurde.
Und wie sie versuchten, sich die Ohren zuzuhalten, aber es half nicht.
Hören wir von ihrer lähmenden Angst
Und von dem Schweigen, das sich ausbreitete.
Von dem Schutt, den sie beiseite räumen mussten,
damit sie aus dem Keller klettern konnten.
Und von denen, die sie nie wiedersehen konnten.
Hören wir ihre Klage gegen einen Himmel, der Bomben regnen ließ
Und von einem Gott, der für die einen ganz weit weg war
und für die anderen tröstlich nahe.
Lassen wir sie erzählen.
Hören wir ihnen zu.

III.
Menschen, die Leid erfahren, müssen gehört werden.
Und gesehen.
Zu viele haben damals weggehört und weggesehen.
Vor dieser Grauennacht von Pforzheim und danach.

Als die jüdischen Mitmenschen ausgeraubt und deportiert wurden.
Als die Kommunisten ins KZ kamen und Christen ins Gefängnis.
Als die Geschwister Scholl hingerichtet wurden.

Aber es gab auch die anderen.
Die haben hingesehen und hingehört und ihren Mund aufgemacht.
Karl Dürr und Adolf Merkel -
Pfarrer, die hier in Pforzheim gegen die deutschen Christen protestierten.
Dietrich Bonhoeffer, der dem Rad in die Speichen gegriffen hat
und in den Widerstand ging.
Bischof Bell, der im britischen Unterhaus laut die Flächenbombardierung von deutschen Städten anprangerte.
Die Weiße Rose, die den Abgrund sah, in den das deutsche Volk geführt wurde.
Sie alle und noch viel mehr haben gesehen und gehört
und das laut und sichtbar gemacht.
Aber zu wenige haben hingehört.

Wir dürfen nicht weghören.
Wir dürfen nicht wegsehen.
Damals nicht und heute nicht.

IV.
Wir wissen nicht, wohin wir fliehen sollen!
Das hören wir aus Ost-Ghouta in Syrien.
"Wo sollen wir hin mit den Kindern?
Der Lärm der Flugzeuge und der Drohnen am Himmel macht uns allen Angst.
Wir gehen nicht mehr raus.
Wir trauen uns nicht mal mehr, die Kinder zu irgendeinem Schutzraum zu bringen.“
Fassungslos hören und sehen wir, was dort geschieht.
Und wir wissen, dass wir nur sehr wenig tun können.
Aber wir können Schutz bieten.
Für die wenigen, die es bis zu uns schaffen.
Wir haben einen Ort, wohin sie fliehen können.
Wo sie sicher sind.
Aber wir lassen noch nicht mal die Familienangehörigen hierher kommen.

Wir wissen nicht, wohin wir fliehen sollen!
Das sagt mir Herr S., der nach Afghanistan abgeschoben werden soll.
Dort ist sein Bruder ermordet worden.
Dort können keine Felder bestellt werden, weil sie vermint sind.
Dort fallen die Bomben auf Schulen und Krankenhäuser und Botschaften.
Wir wissen nicht, wohin wir fliehen sollen!
Aber wir schicken sie dorthin zurück.

V.
Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab!
Wir sind es den Opfern des 23. Februars schuldig:
Dass wir hinhören und hinsehen.
Das, was damals geschehen ist, darf nie wieder passieren.
Nirgendwo auf der Welt.
Und wo es wieder geschieht, dürfen wir unser Herz nicht verschließen.
Um unserer Toten willen.

Wir sind es den Toten des 23. Februars und des Nationalsozialismus schuldig:
Dass wir den Ungeist einer menschenverachtenden Ideologie erkennen.
Dass wir ihr nicht auf den Leim gehen,
wenn sie vom christlichen Abendland spricht, aber eine Kultur der Ausgrenzung meint.
Und wenn sie Angst schürt gegen Andersgläubige und Andersdenkende.
Dieser Ungeist hat die Menschen schon einmal in den Abgrund geführt.
Er hat Hass gesät und Tod geerntet.
Und sie wussten nicht mehr, wohin sie fliehen sollten.

Wir sind es  Toten des 23. Februars und des Nationalsozialismus schuldig:
Dass keine Bomben mehr aus dem aufgerissenen Himmel fallen,
Sondern dass wir im anderen die Schwester und den Bruder erkennen.
Dass wir "den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen" (Weiße Rose).
Lasst uns dafür zu Gott beten.
Und Frieden und Versöhnung in die Stadt tragen.
(Dafür steht auch das Nagelkreuz, dass wir heute weitergeben.)

VI.
Gestern traf ich die 18jährige Lena (Name geändert).
Ihre portugiesische Großmutter durfte ihren italienischen Freund nicht heiraten.
Sie hat es trotzdem gemacht. Die Familie lebt nun hier.
Lena ist hier geboren.
Lena hört hin und sieht hin
und setzt sich dafür ein, dass Menschen gehört und gesehen werden.
Sie zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit.
Und sie will einen Beruf ergreifen,
in dem sie sich für die Rechte von Benachteiligten einsetzen kann.
Solange es junge Menschen wie Lena gibt,
weiß ich, dass wir allen Grund zur Hoffnung haben.

Wir wissen nicht, wohin wir fliehen sollen.
Das soll kein Mensch mehr sagen müssen.
Nicht in Pforzheim, nicht in Ost-Ghouta, nirgendwo.
Darum stehen wir hier.
Dass wir hinsehen und zuhören.
Die Welt braucht uns.
Mehr denn je.

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